Kanban ist mehr als ein Board
- Stephan Bellmann
- 9. Juli
- 13 Min. Lesezeit
Robin Gamperl über Kanban als evolutionären Ansatz, mit dem Teams und Organisationen schrittweise wachsen, lernen und sich verändern können – ohne große Umbrüche.
Inhalt
Über Robin Gamperl
Robin verfügt über mehr als zehn Jahre Erfahrung in Industrie und Beratung und kombiniert technisches Fachwissen mit Führungskompetenz. Als Consultant und Team Lead bei Accenture begleitet er Unternehmen bei strategischen Transformationsprozessen – mit Schwerpunkten in Führungskräfteentwicklung, Kommunikation und agilem Change Management. Zuvor war Robin bei umlaut sowie bei Premium AEROTEC tätig, wo er Großprojekte im Bereich Digitalisierung, Performance Management und agile Organisationsentwicklung leitete. Seine technische Basis stammt aus einem dualen Studium im Maschinenbau und der Luft- & Raumfahrt.

Zusammenfassung des Interviews
Robin begann seine berufliche Laufbahn im technischen Bereich mit einem Studium im Maschinenbau und der Luft- und Raumfahrt. Früh hatte er Berührungspunkte mit Lean-Methoden, wie Six Sigma oder Kanban, vor allem im Produktionsumfeld. Während seiner Zeit bei Premium Aerotec arbeitete er im Bereich Digitalisierung und interne Softwareentwicklung, wo er agile Methoden wie Scrum und Kanban erstmals in der Softwareentwicklung anwandte. Nach seinem Wechsel zu Umlaut (heute Accenture) vertiefte er sein Wissen und qualifizierte sich zum Kanban-Trainer, um heute sowohl intern als auch extern Kanban-Trainings zu geben.
Kanban sieht Robin vor allem als ein Instrument für Change Management und Transformation. Es ist nicht nur ein visuelles Board, sondern umfasst Prinzipien und Praktiken, die darauf abzielen, Arbeitssysteme zu optimieren und Veränderung evolutionär und schrittweise zu gestalten. Ein zentrales Prinzip ist „Manage the work, not the worker“ – der Fokus liegt darauf, das System und den Arbeitsfluss zu verbessern, nicht einzelne Personen zu kontrollieren.
Viele Unternehmen verwenden Kanban jedoch nur oberflächlich, indem sie lediglich die Visualisierung des Workflows einsetzen. Die weiteren wichtigen Elemente wie WIP-Limits, explizite Prozessregeln, Feedback-Loops und kontinuierliche Verbesserung werden oft vernachlässigt. Dies führt dazu, dass Kanban häufig nicht vollständig genutzt wird, sondern eher als Tool zur Transparenzgewinnung dient.
Eine der größten Herausforderungen bei der Kanban-Einführung ist die bestehende Unternehmenskultur, die häufig von traditionellen, tayloristischen Prinzipien geprägt ist, wie Parallelisierung und Kontrolle vieler Aufgaben gleichzeitig. Kanban fordert jedoch Fokussierung und Begrenzung der parallelen Arbeit, was ein grundlegendes Umdenken auf allen Ebenen des Unternehmens erfordert.
Gleichzeitig ist Kanban sehr gut für den schrittweisen Einstieg geeignet: Man beginnt mit dem aktuellen Status quo, etwa durch ein einfaches Board, und entwickelt sich dann kontinuierlich weiter. Allerdings benötigen Teams dabei Begleitung, um nicht bei ersten Erfolgen stehen zu bleiben, sondern systemische Verbesserungen umzusetzen. Rollen wie ein „Kanban Master“ existieren offiziell nicht, doch Service-Rollen oder Coaches können diese Aufgabe übernehmen.
Kanban funktioniert sowohl vor Ort mit physischen Boards als auch digital – wobei physische Boards laut Robert flexibler sind. Digitale Tools wie Jira werden oft als starr empfunden, weshalb sie durch virtuelle Whiteboards ergänzt werden.
Die Vorteile von Kanban sind messbar: Teams können Durchlaufzeiten um über 80 % reduzieren, die Verlässlichkeit in der Zusammenarbeit steigt, und die Transparenz verbessert die Abstimmung. Studien bestätigen diese positiven Effekte und zeigen, dass Kanban oft gegenüber anderen Methoden Vorteile bei Visualisierung, Durchlaufzeit und Verlässlichkeit bietet.
Der größte Vorteil von Kanban gegenüber Scrum ist die einfache Einstiegsmöglichkeit ohne vorherige Rollenverteilung oder komplexe Strukturen. Kanban erlaubt einen sofortigen Start mit dem vorhandenen Workflow und kontinuierliche Verbesserung. Für Organisationen empfiehlt Robert, grundsätzlich mit Kanban zu starten und je nach Bedarf Scrum oder andere Modelle ergänzend einzusetzen.
Abschließend betont Robert, dass Kanban sehr agil im Sinne des Agilen Manifests ist. Es fördert Zusammenarbeit, Anpassungsfähigkeit, Kundenfokus und kontinuierliche Verbesserung und schafft durch Konzentration auf den Arbeitsfluss echte Flexibilität – das Herzstück agiler Arbeit.
Kernaussagen
1. Kanban als Werkzeug für Veränderung und Transformation
Kanban ist mehr als nur ein einfaches Board; es versteht sich als ein wirkungsvolles Instrument für Change Management. Es ermöglicht einen evolutionären und niedrigschwelligen Einstieg, indem es dazu einlädt, mit dem aktuellen Status quo zu starten und darauf aufzubauen. Dabei fördert Kanban eine systemische Sichtweise, bei der der Fokus nicht auf der einzelnen Person, sondern auf der kontinuierlichen Verbesserung des gesamten Systems liegt – ganz nach dem Prinzip „Manage the work, not the worker“.
2. Prinzipien und Praktiken von Kanban
Kanban basiert auf sechs Prinzipien: Kundenfokus, Serviceorientierung, evolutionäre und schrittweise Verbesserung, ein respektvolles Vorgehen, fördernde Führung auf allen Ebenen sowie der Start im aktuellen Status quo. Ergänzt werden diese Prinzipien durch sechs Praktiken: die Visualisierung des Workflows, die Begrenzung paralleler Arbeit (WIP-Limits), das Management des Arbeitsflusses, das Festlegen expliziter Regeln, die Etablierung von Feedback-Schleifen und die kontinuierliche Verbesserung. Die zentrale Botschaft dabei ist, dass Visualisierung zwar ein wichtiger Bestandteil von Kanban ist, der volle Nutzen jedoch erst durch das Zusammenspiel aller Praktiken erreicht wird.
3. Herausforderungen in der Praxis
Viele Unternehmen beschränken sich darauf, ihre Arbeit lediglich zu visualisieren, ohne Kanban vollständig umzusetzen. Für tiefgreifende systemische Veränderungen sind jedoch kontinuierliche Begleitung, klare Verantwortlichkeiten und Ausdauer notwendig. Kanban stößt dabei häufig auf Widerstände, da es mit traditionellen Denkweisen wie Taylorismus, Multitasking und umfassender Vorausplanung kollidiert. Während erfolgreiche Kanban-Anwendungen oft auf der Teamebene zu finden sind, bleibt eine umfassende, organisationale Umsetzung nach wie vor die Ausnahme.
4. Umsetzung und Erfolgsfaktoren
Kanban ermöglicht einen sofortigen Einstieg ohne die Notwendigkeit fester Rollen oder umfangreicher struktureller Änderungen. Zwar sieht das Kanban-System keine explizite Rolle wie einen „Kanban Master“ vor, doch ist die Unterstützung durch begleitende Personen oft hilfreich, um den Prozess voranzutreiben. Physische Kanban-Boards bieten dabei Vorteile durch ihre hohe Flexibilität, während digitale Tools häufig zu starr sind; diese können jedoch durch virtuelle Whiteboards wie Miro ergänzt werden, um flexibler zu arbeiten. Zu den messbaren Erfolgen von Kanban gehören eine signifikante Reduktion der Durchlaufzeiten, höhere Verlässlichkeit und eine bessere Planbarkeit von Arbeitsergebnissen.
5. Kanban vs. Scrum
Der Vorteil von Kanban liegt in seinem niedrigschwelligen Einstieg und der Möglichkeit zur kontinuierlichen Weiterentwicklung, ohne dass feste Rollen erforderlich sind. Scrum kann dabei ergänzend sinnvoll sein, insbesondere wenn klare Iterationszyklen oder unsichere Anforderungen vorliegen. Die Empfehlung lautet daher, zunächst mit Kanban zu starten und anschließend zu prüfen, ob weitere Modelle wie Scrum das Vorgehen ergänzen können.
6. Agilität und Kanban
Kanban erfüllt die Prinzipien des Agilen Manifests und geht dabei teilweise sogar konsequenter vor als andere Frameworks. Agilität wird dabei als Fokus, Flexibilität, Anpassungsfähigkeit und Kundenzentrierung verstanden – alles zentrale Elemente, die Kanban umfassend unterstützt.
Interview
Bevor wir in das Thema Kanban einsteigen, möchte ich kurz auf deine Person eingehen. Du bist gewissermaßen bei Premium Aerotec groß geworden und arbeitest inzwischen bei Accenture. Vielleicht kannst du kurz erläutern, was du dort gemacht hast und welche Berührungspunkte du bisher mit Kanban hattest.
Robin
Ich habe meine Laufbahn im technischen Bereich begonnen, da ich Maschinenbau sowie Luft- und Raumfahrt studiert habe. Schon früh hatte ich Berührungspunkte mit Lean-Methoden – insbesondere in der Produktion und Logistik. Dabei habe ich viele Themen kennengelernt, etwa Prozesskontrolle, Six Sigma und natürlich auch Kanban, auch wenn Kanban in der Produktion einen etwas anderen Kontext hat. Ich habe mich intensiv mit dem Toyota Production System und ähnlichen Ansätzen beschäftigt – das war einer der ersten Berührungspunkte mit diesen Methoden.
Später, in meiner Zeit bei Premium Aerotec, war ich im Bereich Digitalisierung tätig. Dort haben wir uns auch mit interner Softwareentwicklung beschäftigt – also nicht mit der Entwicklung von Software für Flugzeugsysteme, sondern für Prozesse, Logistikabläufe, Qualitätsmanagement und ähnliche Bereiche. In diesem Zusammenhang haben wir uns intensiv mit dem Thema Agilität auseinandergesetzt. Mit externer Unterstützung haben wir agile Softwareentwicklungsprozesse aufgebaut und konnten diese über einen gewissen Zeitraum selbst erproben. Wir hatten dabei auch eine gewisse Freiheit in der Gestaltung der Prozesse – natürlich unter der Voraussetzung, dass am Ende Ergebnisse geliefert werden. Wie wir dorthin gelangten, war jedoch relativ offen. In dieser Zeit habe ich sowohl Scrum als auch Kanban kennengelernt – insbesondere in der Anwendung auf agile Softwareentwicklung und wissensbasierte Arbeit.
Das waren meine ersten intensiveren Berührungspunkte mit Kanban. Als ich Ende 2020 Premium Aerotec verlassen und zu Umlaut – heute Part of Accenture – gewechselt bin, habe ich das Thema Agilität weiter vertieft. Relativ bald nach meinem Einstieg habe ich intern einen Kollegen kennengelernt, Tobias Weber, der mich stärker auf das Thema Kanban aufmerksam gemacht hat. Wir suchten damals kurzfristig einen Trainer für Kanban-Themen, und da ich ohnehin großes Interesse hatte, habe ich mich intensiver damit beschäftigt. In der Folge habe ich über zwei Jahre hinweg verschiedene Trainings absolviert und schließlich die Qualifikation als Kanban-Trainer erworben.
So bin ich nach und nach tiefer in das Thema Kanban eingestiegen. Heute gebe ich intern wie auch extern – also bei Kunden – Trainings dazu und versuche, das Thema kontinuierlich weiterzutragen und in die Breite zu bringen. Das wäre in aller Kürze mein Weg zum Thema Kanban.
Sehr schön – das zeigt, dass du bereits viele wichtige Grundlagen gelegt hast. Mir ist auch aufgefallen, dass in deinem LinkedIn-Profil – übrigens absolut empfehlenswert, dort einmal reinzuschauen – das Wort "Transformation" sehr häufig vorkommt. Das deutet darauf hin, dass du dich intensiv mit diesem Thema beschäftigt hast. In diesem Zusammenhang spielen natürlich auch methodische Ansätze eine zentrale Rolle – beispielsweise das Kanban-Modell, aber auch andere agile Modelle. Es geht letztlich darum, wie man Veränderungen konkret gestaltet, also wie man eine Transformation erfolgreich von Punkt A nach Punkt B umsetzt.
Robin
Genau, richtig. Und Kanban passt da eigentlich sehr gut rein. Vom Wording her gibt es da oft Diskussionen: Ist es ein Framework, ist es eine Methode? Aber im Kern geht es bei Kanban sehr stark um Change Management. Also darum, wie man Veränderungen angeht – im Kleinen wie im Großen. In diesem Kontext ist Kanban ein hervorragendes Werkzeug für Transformation, Change und Agilität. Da werden wir sicherlich gleich noch tiefer einsteigen.
Ich habe mir natürlich auch ein paar Artikel und Webseiten durchgelesen, unter anderem auch Wikipedia. Da findet man unterschiedliche Angaben zu den Grundprinzipien und Praktiken von Kanban. Ich habe mal gesammelt, was ich gefunden habe: Sechs Grundprinzipien und fünf Praktiken. Ich lese sie mal kurz vor:
Grundprinzipien:
Beginne mit dem, was du aktuell tust
Schrittweise, evolutionäre Veränderungen
Fördernde Führung auf allen Ebenen
Aktuelle Prozesse, Rollen und Verantwortlichkeiten respektieren
Kundenfokus
Serviceorientiertes Denken
Praktiken:
Visualisiere den Workflow
Limitiere parallele Arbeit (WIP-Limit)
Manage den Arbeitsfluss
Formuliere Prozessregeln explizit
Strebe kontinuierliche Verbesserung an
Robin
Genau, das ist schon eine sehr gute Zusammenfassung. Was ich noch ergänzen würde: Die sechste Praktik ist das Etablieren von Feedback-Loops. Und bei den Prinzipien ist für mich besonders wichtig: "Manage the work, not the worker." Das bedeutet, dass wir in Kanban immer davon ausgehen, dass das System, in dem gearbeitet wird, optimierbar ist – nicht unbedingt die einzelne Person. Wenn es Probleme gibt, dann schauen wir auf das Systemdesign, nicht auf individuelle Fehler. Das ist ein ganz zentraler Gedanke in Kanban.
Gibt es denn eine offizielle Quelle für diese Prinzipien und Praktiken? Denn wie gesagt, in verschiedenen Quellen liest man Unterschiedliches.
Robin
Die Kanban University ist die größte Organisation, die sich mit dem Thema Kanban beschäftigt. Ich bin dort selbst zertifizierter Trainer und halte Kanban-Trainings. Dort gibt es ein klar definiertes Set an Prinzipien und Praktiken. Klar, es gibt auch andere Stimmen – etwa David J. Anderson, Mike Burrows oder Donald Reinertsen – die Kanban in den letzten Jahren mitgeprägt haben. Aber im Kern herrscht Einigkeit: WIP-Limits, Services, "Manage the work", evolutionäre Veränderung – das sind die Schlüsselelemente.
David J. Anderson ist ein gutes Stichwort. Er ist ja Mitbegründer der Kanban University. Und passend dazu: Ich habe eine Studie dabei, den "State of Kanban Report" – kennst du sicher. Aber bevor wir da einsteigen: Die meisten kennen Kanban über das Kanban-Board. Das ist weit verbreitet. Aber damit allein ist es ja nicht getan, oder?
Robin
Genau. Ein Board mit Spalten und Post-its, die sich von links nach rechts bewegen – das ist oft das Erste, was man sieht. Das ist auch schon ein Teil von Kanban, nämlich die Visualisierung. Vielleicht noch ein wenig Flow-Management. Aber das allein reicht nicht. Die anderen Praktiken – WIP-Limits, Feedback-Loops, explizite Regeln, kontinuierliche Verbesserung – die kommen da oft zu kurz. Genauso wie die Prinzipien dahinter: "Start with what you do now", "Manage the work, not the worker" und so weiter. Viele bleiben beim Visualisieren stehen. Das kann helfen, ist aber nur der erste Schritt.
Heißt das, viele Unternehmen wenden Kanban nicht richtig an?
Robin
Jein. Kanban sagt selbst: "Fang mit dem an, was du gerade tust." Das ist ein großer Vorteil gegenüber anderen Frameworks, die sofort bestimmte Rollen oder Abläufe fordern. Viele Teams beginnen damit, ihren Workflow einfach mal sichtbar zu machen: Was sind die Schritte, wer arbeitet woran, was liegt wo. Das ist völlig in Ordnung. Aber wenn man da stehenbleibt, macht man eben nicht wirklich Kanban, sondern betreibt eine Visualisierung der Arbeit.
Aber auch das ist ja schon wichtig. Ich denke, allein durch die Visualisierung wird vieles sichtbar, was vorher verborgen war. Die nächsten Schritte wären dann, die Prinzipien und Praktiken auch wirklich anzuwenden.
Robin
Genau. Die Visualisierung schafft Transparenz. Aber ohne die weiteren Elemente können wir das System nicht grundlegend verbessern.
Wie viele Unternehmen, würdest du sagen, wenden Kanban wirklich in Gänze an?
Robin
Wahrscheinlich im einstelligen Prozentbereich. Es ist ein Unterschied, ob man Kanban auf Team-Ebene oder auf Organisationsebene einsetzt. Auf Teamebene gibt es durchaus gute Beispiele, auch aus meiner Beratungserfahrung. Aber organisationsweit, mit skalierter Anwendung und strategischem Fokus – das ist sehr selten.
Wo liegen die größten Hürden für Unternehmen bei der Anwendung von Kanban?
Robin
Kanban basiert auf Prinzipien, die in vielen Unternehmen noch nicht verankert sind. Viele Strukturen sind historisch durch den Taylorismus geprägt: Vorausplanung, Parallelisierung, Kontrolle. Kanban setzt dagegen auf Fokus und Begrenzung – zum Beispiel durch WIP-Limits. Dadurch entsteht mehr Flow, schnellere Ergebnisse, höhere Qualität. Aber das widerspricht oft der gelebten Praxis, wo Hunderte Themen gleichzeitig bearbeitet werden. Wenn das schon auf Management-Ebene nicht begrenzt wird, kann ein einzelnes Team wenig ausrichten. Das erfordert ein Umdenken im gesamten System – nicht nur im Mindset, sondern in der grundsätzlichen Vorstellung davon, wie Arbeit funktioniert und wie man sie verbessern kann.
Eines der Grundprinzipien von Kanban lautet: „Fange da an, wo du gerade bist, und verbessere dich evolutionär und schrittweise.“ Bedeutet das nicht, dass ich ganz einfach starten kann – etwa damit, zunächst nur zu visualisieren – und dann Stück für Stück weitergehe? Vielleicht beginne ich mit einem einfachen Board, verbessere mich kontinuierlich und habe nach einem Jahr die wesentlichen Prinzipien umgesetzt. Ist das ein realistischer Ansatz?
Robin
Absolut! Das ist sogar genau der Weg, den ich mir wünschen würde. In der Praxis stoßen Teams dabei allerdings häufig auf zwei typische Probleme. Erstens: Schon die bloße Visualisierung oder kleine Designänderungen im Arbeitsfluss führen oft zu so sichtbaren Erfolgen, dass viele damit aufhören – sie sagen sich: „Das bringt uns doch schon etwas, passt doch so.“ Das bringt kurzfristig Effizienz, verändert aber nicht grundsätzlich, wie Arbeit durch das System fließt.
Zweitens: Der Übergang von kleinen Verbesserungen hin zu echten systemischen Veränderungen – also die Frage, woran wir überhaupt arbeiten und wie – erfordert eine kontinuierliche, dedizierte Begleitung. Ob durch einen externen Coach oder ein engagiertes Team: Man muss sich intensiv damit auseinandersetzen, wohin man will und was man verbessern möchte. Sonst läuft man Gefahr, sich schnell aufzureiben.
Klingt so, als sei das auch eine Frage von Haltung und Klarheit. Was wäre denn aus deiner Sicht eine Lösung, um diesen Prozess einfacher und nachhaltiger zu gestalten?
Robin
Zunächst einmal: Es ist wichtig, den Weg sichtbar zu machen. Kanban ist kein Rezept mit „eins, zwei, drei – und fertig“, sondern ein schrittweiser Prozess. Es geht darum, Prinzipien wie Visualisierung, das Limitieren paralleler Arbeit und das Management des Arbeitsflusses aufzubauen. Und es ist wichtig, dem Teams zu zeigen, wohin die Reise gehen kann.
Dazu gehört auch, Verantwortlichkeiten zu schaffen – Menschen im Team, die das Thema explizit vorantreiben. Ob intern oder mit externer Hilfe ist zweitrangig. Entscheidend ist, dass das Team selbst beginnt, darüber nachzudenken: „Was ist gut für uns? Was können wir konkret verbessern?“ Leider ist genau das oft nicht mehr selbstverständlich. Viele Teams sind es nicht gewohnt, eigenständig über Optimierungen nachzudenken. Das muss man manchmal erst wieder lernen – und dann entsteht eine völlig neue Dynamik.
Könnte man da nicht einfach – analog zum Scrum Master – einen „Kanban Master“ benennen? Also jemanden, der kontinuierlich darauf achtet, dass die Prinzipien eingehalten werden und man sich nicht in alte Muster zurückzieht?
Robin
Die Diskussion gibt es tatsächlich schon lange. Bisher sieht das Kanban-System keine explizite Rolle wie einen „Kanban Master“ vor. Allerdings wurden in den letzten Jahren Service-Rollen eingeführt: zum Beispiel Rollen, die sich explizit mit dem Arbeitsfluss oder der Systemverbesserung beschäftigen. Das geht schon in die Richtung eines Coaches oder Begleiters – ist aber bewusst nicht als feste Rolle vorgeschrieben.
Kanban verfolgt das Prinzip: Alle sollen mitdenken. Natürlich braucht es trotzdem oft externe Impulse – gerade zu Beginn. Denn wie du sagst: Menschen neigen dazu, in alte Gewohnheiten zurückzufallen. Und da hilft es, jemanden zu haben, der dranbleibt und unterstützt.
Wie siehst du das Thema „Kanban remote vs. vor Ort“? Funktioniert Kanban digital genauso gut?
Robin
Ich persönlich bin ein großer Fan von physischen Boards. Einfach, weil sie extrem flexibel und anpassbar sind. Die großen Tools wie Jira oder Azure DevOps sind zwar mächtig und weit verbreitet, aber sie sind oft sehr starr, wenn es um Kanban geht. Es fehlt die Möglichkeit, komplexe Arbeitsflüsse flexibel abzubilden – etwa wenn Tickets zurückgehen, aufgesplittet werden oder sich Prozesse verzweigen.
Natürlich ist die Realität heute eine andere: Viele Teams arbeiten hybrid oder vollständig remote. Deshalb nutzen wir die Tools – und ergänzen sie zum Beispiel mit virtuellen Whiteboards wie Miro oder Mural. Die Flexibilität ist dabei aber ein entscheidender Punkt.
Das ist spannend. Viele kennen nur ihr eigenes Setup und fragen sich: „Machen das andere genauso?“ Wie sieht es denn mit echten Erfolgen durch Kanban aus? Gibt es messbare Vorteile für Teams oder Organisationen?
Robin
Ja, die gibt es definitiv – vor allem auf Teamebene. Wenn man Kanban konsequent umsetzt – also nicht nach der Visualisierung aufhört –, kann man etwa die Durchlaufzeit massiv senken. Was früher Wochen oder Monate dauerte, ist plötzlich in Tagen erledigt. Reduktionen von über 80 % sind keine Seltenheit. Das liegt daran, dass man sich auf weniger Aufgaben gleichzeitig konzentriert und diese dann verlässlich abschließt.
Ein weiterer Vorteil ist die Verlässlichkeit. In vielen Organisationen höre ich: „Auf das andere Team ist kein Verlass – wenn sie sagen, in zwei Wochen ist es fertig, dauert’s vier.“ Dann frage ich: „Könnt ihr das besser?“ – und oft lautet die Antwort: „Schwierig.“ Kanban schafft genau hier Klarheit und Verlässlichkeit, was wiederum viel Abstimmungsaufwand und Unsicherheit spart.
Ich habe mich im Vorfeld auch mit Studien beschäftigt – etwa dem „State of Kanban“-Report der Kanban University. Klar, der ist nicht völlig unabhängig, aber immerhin zeigt er: Über 50 % der Befragten sehen Kanban im Vergleich zu anderen Modellen im Vorteil – insbesondere bei Visualisierung, Durchlaufzeit und Verlässlichkeit. Das deckt sich mit dem, was du schilderst.
Robin
Absolut. Und ich bin auch ein großer Fan von KPIs. Wir reden ständig über Time-to-Market, Innovationsfähigkeit, Kundenfokus. Kanban adressiert genau diese Punkte – und bietet klare Messgrößen, um Fortschritte sichtbar zu machen.
Wenn du es in einem Satz sagen müsstest: Was ist der größte Vorteil von Kanban gegenüber Scrum?
Robin
Ganz klar: Man kann einfach anfangen. Man braucht nicht erst Rollen, Schulungen oder komplexe Strukturen. Man startet dort, wo man steht – mit einer Visualisierung, einem einfachen Board – und entwickelt sich kontinuierlich weiter. Und das finde ich enorm wertvoll.
Wenn ich nun eine Organisation wäre, die sich fragt: „Sollten wir mit Kanban oder Scrum starten?“ – was würdest du raten?
Robin
Kanban ist grundsätzlich immer sinnvoll – unabhängig davon, ob man Produktentwicklung, Services oder Prozesse abbildet. Vielleicht macht Scrum zusätzlich Sinn, etwa wenn man starke Iterationszyklen oder Unsicherheiten hat. Aber mein Rat wäre: Fangt mit Kanban an. Visualisiert, analysiert euren Flow, setzt WIP-Limits – und schaut dann, ob Scrum oder andere Modelle ergänzend passen. Es geht nicht um „entweder oder“, sondern oft um ein „sowohl als auch“.
Braucht man besondere Voraussetzungen oder Qualifikationen, um mit Kanban zu starten?
Robin
Nein. Theoretisch kann jede*r sofort loslegen. Es gibt Trainings – etwa von der Kanban University –, aber zwingend notwendig sind sie nicht. Wer sich an die Prinzipien hält, kontinuierlich dranbleibt und sich mit Themen wie Fokus, Durchlaufzeit und Limitierung beschäftigt, ist auf einem guten Weg.
Zum Abschluss noch eine große Frage: Wie agil ist Kanban wirklich? Wenn man es mit dem Agilen Manifest von 2001 vergleicht – erfüllt Kanban diese Prinzipien?
Robin
Ganz klar: Ja. Kanban lebt Agilität – vielleicht sogar stärker als viele Frameworks, die sich „agil“ nennen. Es geht um Zusammenarbeit, Anpassungsfähigkeit, Kundenzentrierung und kontinuierliche Verbesserung. Für mich bedeutet Agilität auch, proaktiv handeln zu können – nicht nur reaktiv. Und genau das ermöglicht Kanban durch Fokus und WIP-Limits. Dadurch entsteht echte Flexibilität – und die ist für mich das Herz agilen Arbeitens.
Vielen Dank für den spannenden Einblick, Robin!
Robin
Sehr gerne – hat Spaß gemacht!
Metadaten
Durchführung Interview: 14.03.2025 (remote)
Interviewsprache: deutsch
Interviewer: Stephan Bellmann
Interviewpartner: Robin Gamperl




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